MICHAEL VOGELEY
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Alpines Spiel mit einer Materie, die man nicht beherrschen kann. Von Lust und Angst – von Eisbergen und was man mit und auf ihnen treiben kann. Von Michael Vogeley für AlpOnline
Viele Unglücksfälle kommen daher, dass gewisse Dinge von uns weichen: So der Griff, das Gleichgewicht oder der Verstand. (Geoffry Winthrop Young)
In Eckensteintechnik auf den Eisberg. „Eismann“ Jürgen Knappe beim Eisklettern mitten im Eismeer.
Vom Hüftgurt des einsamen Protagonisten verschwindet ein Seil hinter dem schönen Eisstück. Ist dahinter noch jemand der sichert? Steht ein Zweiter am Anfang des Stricks? Ist der an Eisschrauben gesichert und an einem Standplatz festgebunden? Wurden Zwischensicherungen gesetzt, und läuft das Seil durch mehrere Karabiner? Sind hier zwei Menschen quasi ans Eis gefesselt?
Was kann es Herausforderndes für einen Kletterer geben, als sich an einem steilen Eisberg zu versuchen? Ist es nur die Lust am Kampf mit einer Materie, die man nicht beherrschen, höchsten überlisten kann? Die schwimmenden Gesellen können recht launisch sein!
Schon Anfang der Dreißiger Jahre sammeln berühmte Bergsteiger – unter ihnen „Bergvagabund“ Hans Ertl und der Bergführer Fritz Steuri als erste Alpinisten Klettererfahrungen mit den wilden Gebilden aus jahrtausendealtem Gletschereis.
Dr. Arnold Fanck legt in seinem Buch „Er führte Regie mit Gletschern, Stürmen und Lawinen“ Zeugnis von seinem Leben als Bergfilmer ab. Sein Streifen S.O.S. Eisberg entsteht 1932 auf einer kühnen Entdeckerfahrt nach Grönland. Die umstrittene Leni Riefenstahl spielt eine Hauptrolle. Ertl, einer der besten Eiskletterer seiner Zeit und Erstbegeher der eisigen Ortler-Nordwand, begleitet ihn als Bergführer – und geht dabei fast zugrunde!
Fanck ist begeistert von der Schönheit der Eisberge und philosophiert im begleitenden Buch, über die „schwimmenden, heimtückischen Ungeheuer“:
… wo doch jede Besteigung eines Eisbergs gefährlicher ist, als die Bezwingung der schwierigsten alpinen Gipfel. (…) Je weiter weg, desto größer die Liebe – und je näher, desto größer die Bedenken.
Warum?
Auf die selbstgestellte Frage nach den Beweggründen einer Besteigung erklärt sich Fanck ehrlich:
Weil wir keine Ahnung hatten. Trotzdem wir alle Bergsteiger waren, die zum Teil schon seit 20 und 25 Jahren auf Gletschern und Eisgipfeln der Alpen herumklettern, hatten wir nicht die leiseste Vorstellung davon, wie leicht – aber auch furchtbar gefährlich – es sei, auf so relativ kleinen (gemessen an den Dimensionen ihrer großen alpinen Brüder) Bergen aus Eis herumzusteigen.
Und zur damaligen Technik des Überwindens von Steileis bemerkt er langatmig aber informativ:
Gerade dieses Stufenschlagen verbietet sich im grönländischen Eis von selbst. Wer es einmal versucht und das Resultat auch nur „gehört“ hat – noch nicht einmal gesehen – nämlich das unheimliche Krachen, das oft ein einziger Pickelschlag in der ungeheueren Masse eines unter ungewöhnlichen inneren Spannungen stehenden Eisberges ertönt, der ist für alle Zeiten davon kuriert, den Eiswänden eines Eisberges mit dem gewohnten Hilfsmittel des Pickels zu Leibe gehen zu wollen. Wer es aber gar einmal erlebt und mitangesehen hat, wie der Versuch, einen dünnen Mauerhaken zu Sicherungszwecken viele Meter hinter einer Eiskante einzuschlagen, sofort das Resultat hatte, dass durch dieses winzige Stück Eisen die ganze Kante mit einer Eismasse von über 10 000 Zentnern losgesprengt wurde und mit dem donnernden Krach einer Explosion ins aufschäumende Meer hinunterstürzte, mitsamt den darauf stehenden Menschen, der wird sicher verstehen, dass die Beantwortung der Frage „Warum?“ eigentlich tatsächlich nur lauten kann: „Weil wir keine Ahnung hatten.“
Zwei Generationen später stelle auch ich fest, dass die damals geltenden physikalischen Gesetze noch immer gültig sind. Ich lerne die Lust am Spiel mit einer Materie kennen, die man nicht beherrschen kann. Und die Angst davor.
Die Spitze des Eisbergs
Glaziologen definieren Eisberge als große Bruchstücke von schwimmendem oder gestrandetem Gletschereis, die durch Abbrechen, Kalben, geboren werden. Etwa 80 Prozent der Masse bleiben unter Wasser verborgen. Die günstigsten Bedingungen für die Geburt von Eisbergen herrschen an den grönländischen Küsten und den vereisten Gestaden der Antarktis.
Von Anfang März bis in den Juli hinein bekommen Eisberge in Grönland Saison. Von donnernden Gletschern werden sie ins Meer geworfen und begeben sich auf eine lange Reise. Meeresströmungen und Wind bestimmen den Kurs. Flotten von bis zu 40 000 der „weißen Wunder“ erreichen jährlich Nordost-Kanada und werden weiter von Strömungen nach Süden geschickt.
Eisberge mit etwa 100 bis 120 Metern sichtbarem „Gipfel“ lassen vermuten, dass ihre Untergrenze 600 bis 1000 Meter unter der Wasseroberfläche schwimmt. Löst sich unter Wasser ein Stück Eis, so schießt es gleich einem Champagnerkorken an die Oberfläche des Meeres. Wehe dem Boot, das diese Rakete dann trifft!
Eis in Reinkultur sieht man vor sich, die Arktis produziert jede Menge davon. Eis ist eiskalt, Eis schmilzt, Eis ist gefrorenes Wasser, Eis ist umgewandelter Schnee. Eisberge können schwimmen, aber auch trudeln, kentern. Der Anblick eines großen, sich wälzenden Eisbergs gleicht einem Vulkanausbruch, einer elementaren Naturkatastrophe.
An der Küste blitzen die Ränder des ewigen Eises. Es gibt kaum eine schönere Landschaft als polare Gewässer an einer Küste. Schon Christiane Ritter schrieb vor nunmehr sechs Jahrzehnten in ihrem berühmten Buch Eine Frau erlebt die Polarnacht den bezeichnenden Satz:
Um diese Landschaft zu malen, müsste man die Andacht der alten Meister haben.
Nachts war es immer der gleiche Alptraum: Ich kletterte an einem Eisberg, stand auf den Frontalzacken der Steigeisen und hing mit den Eisklettergeräten an einem senkrechten Stück. Weit unten das Meer. Und dann drehte die Insel aus Eis durch.
Der Inuk Märta Tikkam merkt zu dieser Horrorvision realistisch-poetisch an:
Eisberge nehmen keine Rücksicht, wenn ihnen zum Bersten zu Mute ist. (…) Und die Flutwelle hält den Atem an, wenn der Berg neue Berge gebiert, und sich dann aus der dröhnenden Stille erhebt, zehn Meter hoch, steil aufragend kommt er angestürzt.
Die Eiskappe Grönlands: Vermächtnis der Eiszeit
Betrachtet man die nördliche Erdhalbkugel unseres Planeten Erde, so bleibt man unwillkürlich an einem sprichwörtlichen weißen Fleck haften: Grönland. Die größte Insel der Welt trägt die mächtigste Eismasse außerhalb der Antarktis, knappe zwei Millionen Quadratkilometer groß. Das Alter des Eises schwankt am Rand von 500 bis zu kaum glaubhaften 100 000 Jahren. Die untersten Schichten des bis zu 3 000 Meter mächtigen Inlandeis sind bis zu zwei Millionen Jahre alt. Sie haben den Klimaverlauf der Erde konserviert. Folgerichtig wird mit kalbenden Eisbergen auch die Geschichte auf die Reise geschickt.
Würde das grönländische Becken aus Eis – nur zusammengehalten von den Randgebirgen der Küste – abschmelzen, so stiege der Wasserspiegel der Ozeane um etwa sieben Meter. Hamburg würde versinken. Die Niederlande wären fast völlig untergegangen, weite Teile der Norddeutschen Tiefebene wasserumspült.
Würde auch das Eis der Antarktis flüchtig, so stiege das Niveau der Ozeane nochmals um 70 Meter. Köln wäre ein florierender Hafen am Meer. Eine Zukunftsvision? Die zunehmende globale Erwärmung verleiht dieser Vorstellung bedrohliche Aktualität.
Die überwiegende Zahl aller Eisberge der nördlichen Erdhalbkugel wird von grönländischen Gletschern produziert. Zwischen dem bis zu 2 000 Meter hohen Schüsselrand der Küstengebirge schiebt sich das mächtige Inlandeis in ungezählten Gletscherzungen in die tief eingeschnittenen Fjorde.
Eis leuchtet in der Sonne wie gebrochenes Glas oder schimmert wie flüssiges Silber. Die ungeheure Geschwindigkeit – viele Gletscher fließen bis zu 30 Meter pro Tag, also etwa die gleiche Distanz, die Alpengletscher in einem Jahr schaffen – lässt mit Donnergrollen enorme Eismassen abbrechen: Der Bruch kalbt. Jahrtausendealte, schön geschichtete Eiskaskaden werden krachend ins Wasser geworfen, und Gebirge auf die Reise geschickt. Sie reihen sich in eine Prozession gigantischen Ausmaßes ein.
Der Arktisforscher de Quervain schreibt darüber beeindruckt: „Solch ein mit Eis verstopfter und verrammelter Fjord (…) ist ein Chaos, dessen Anblick so wild und abstoßend wirkt, wie ihn die Furchtbarkeit der Natur nur irgend aufweisen kann.“
Chaos ist die vollendetste Form der Unordnung – eine Urmasse.
Eine grönländische Eislandschaft hat den Hang zum Grandiosen. Der Nordlanderkunder Dr. Ernst Sorge, erlebt im engen Rinksfjord an der Westküste eine 20 Meter (!) hohen Flutwelle, die sich nach einer Kalbung aufbaute. Die Elemente toben.
Titanic – und andere Dramen
Als ein „schwimmendes Schloss aus Eis“ bezeichnet der irische Mönch St. Brendan de Clofert im sechsten Jahrhundert einen gesichteten Eisberg. Nur die allerstärksten Motive können in der Frühzeit Menschen dazu bewegen, sich in die Arktis zu wagen. Zu groß ist die Angst vor dem grausigen Eis, der furchtbaren Finsternis und vor den Gefahren. Man wagt sich in diese Hölle nur in der Hoffnung, einen direkten Weg zu den Schätzen des Ostens zu finden und sucht über Jahrhunderte die Nordost- und die Nordwest-Passagen.
Auf der Suche nach Trinkwasservorräten auf einer solchen Segelreise schreibt 1602 der englische Kapitän Weymouth in sein Logbuch: „Während wir das Eis abbrachen – was sehr anstrengend war, denn das Eis war fast so hart wie Stein – ließ die Eisinsel ein mächtiges Krachen ertönen, wie bei einem Donnerschlag, und bald darauf begann die Insel zu kippen.“
Es ist eine sternenklare Nacht an diesem 14. April 1912. Das als unsinkbar geltende modernste Passagierschiff der Welt pflügt bei ruhiger See durch das Eismeer nahe der neufundländischen Küste. Plötzlich erbebt der schwimmende Riese. Die Titanic ist mit einem Eisberg kollidiert. Sie sinkt innerhalb von nicht einmal drei Stunden. 1800 Menschen sterben in den eisigen Fluten. Das Drama wird durch einen unlängst mit Oskars überhäuften Film wieder in Erinnerung gebracht.
Noch in den fünfziger Jahren wird der Stolz der dänischen Flotte, die Hans Hedthoft, mit Mann und Maus von einem Eisberg in die Tiefe geschickt.
Eisberge können auch in unserer Zeit für die Schiffahrt gefährlich werden. International Icepatrol, Schiffsradar und Patrouillenflüge der amerikanischen Küstenwache halten die Gefahr einer Kollission mit Eisbergen heute im Zaum, schließen sie jedoch nicht aus. Denn nur etwa 20 Prozent der Masse eines Eisbergs ist über der Wasseroberfläche sichtbar – und damit zu orten. Bei schwerer See sind die weißen Gesellen noch immer eine beträchtliche Gefahr im Nordatlantik.
Schöne kalte Monster
Die schwimmenden Inseln präsentieren sich in architektonischer Fülle. Wind und Wellen formen die Kolosse zu bizarren Türmen. Die vergänglichen Skulpturen sind Wunderwerke der Natur – schon bei ihrer Geburt dem Verfall geweiht. Das Eis zeigt eine deutliche Schichtung, die durch Sommer- und Winterschneefall, aber auch durch das Rollen der labilen Brocken entsteht. Durch immer neue Lageveränderungen tauchen rundgewaschene Partien auf. Riefen im Eis sind ehemalige Brandungslinien, die sich modellieren, wenn sich die Lage des Eisstücks im Wasser mehrfach ändert.
Während die instabilen Riesen kleiner und kleiner werden, bilden sich vielfältige Formen von bizarrer Schönheit: seitwärts geneigte Blöcke, Kuppeln mit gerundeter, glatter Oberfläche, Tore und Gewölbe. Aber auch spitze, matterhornähnliche oder pyramidenförmige Gebilde.
Die Metapher vom „ewigen Eis“ gilt für Eisberge nicht. Die Zeichen des Verfalls sind bei den fragilen Spitzenträgern unverkennbar. Wenn sie sich nach beträchtlichen Schmelzverlusten in eine neue Position gedreht haben, tauchen malerische Ruinen auf – eiskalte Märchenfiguren von atemberaubender Plastizität. Formbar und wandelbar. Unnahbar?
Wo Berge segeln
Im Frühjahr und Sommer starten Eisberge zu ihrer oft tausende Kilometer langen Seereise. Meeresströmungen und Wind bestimmen ihren Kurs. Vom Ostgrönlandstrom geschoben driften sie nach Süden, umrunden die Spitze der Insel, schwenken wieder nach Norden ab, drehen in kanadischen Gewässern einen fast vollständigen Kreis und treiben mit dem Labradorstrom bei Baffin Island wieder südwärts. Mit der in den Wind gestellten großen Fläche, die wie das Lateinersegel einer Nil-Felukke wirkt, können die schwimmenden Berge 100 und mehr Kilometer am Tag segeln.
Zehntausende der eisigen Riesen erreichen so jährlich den Nordteil des amerikanischen Kontinents. Noch auf der Breite Floridas wurden driftende Eisberge geortet.
In den Buchten liegen oft phantastisch geformte Riesen: Sie sind nach einer langen Reise gestrandet und formieren sich zu Burgen und Zinnen, dem allmählichen Vergehen preisgegeben.
Dr. Heide Wilts, Bergsteigerin und auch bekannte Polarseglerin drückt ihre Faszination des schwimmenden Eises so aus:
Blütenweiß, blau, grün und kalt,
schon bei Geburt jahrtausend alt,
und doch noch voll' geballter Kraft,
geht er auf lange Wanderschaft.
Er reiht sich in die dichte Kette
aus Riesen seinesgleichen.
Vor Grönlands Berges-Silhouette,
dort muss er keinem weichen.
Nur Sonne macht ihn schließlich gar
– wo wilde Winde weh'n.
Sie lässt ihn weinen und vergeh'n,
zu dem, was er schon immer war.
Es knackt und knistert, gluckst und sprudelt, es wirbelt, taumelt, kippt und trudelt. Prickelnd entweicht die in vorgeschichtlicher Zeit eingeschlossene und durch das Materialgewicht komprimierte Luft, wenn Eisberge schmelzen – eine Art Arktische Symphonie.
Eisbergeis ist auch ein interessanter grönländischer Exportartikel. Snobs bevorzugen das uralte Material der icebergs für ihren Scotch oder Bourbon. Spleenige Amerikaner lieben die whispering icecubes, die flüsternden Eiswürfel.
Lautlos in Schönheit stirbt jeder auf seine Art
Das von der Antarktis abbrechende Eis hat andere Formen und differierende Größen, als die Eisberge der Arktis. Im Süden des Globus wird es weniger von Gletschern gekalbt. Vom Letzten Kontinent bricht Schelfeis aus ländergroßen Buchten ab und geht in riesigen Tafeln auf die Reise. Das größte gesichtete Exemplar war der Eisberg B-9. Er löst sich 1987 – 153 Kilometer lang und 36 Kilometer breit. Das entspricht der doppelten Fläche des Saarlands! Dagegen sind die Eisberge der Arktis fast Winzlinge. Doch fehlen den antarktischen Schelfeistafeln die Schönheit und Vielfalt der Formen.
Tafeleisberge von den Gestaden der Antarktis werden als gewaltige, bisher nicht genutzte Trinkwasserreserven gehandelt. Gelänge es, einen solchen Berg in Schlepptau zu nehmen und die Schmelzverluste – beispielsweise durch eine Kunststoffhülle – in Grenzen zu halten, könnten bald Süßwasserquellen in trockenen Wüstenregionen, wie Australien oder Saudi Arabien, sprudeln.
Auf die Masse bezogen sind es nur etwa vier Fünftel, die von einem Eisberg sichtbar werden. Wie tief der Brocken im Wasser liegt, hängt von der Struktur des Materials und dem Salzgehalt des Meerwassers ab.
100 Meter hoch über das Wasser ragende Exemplare sind keine Seltenheit. Die bisher größte zuverlässig bestimmte Höhe eines solchen Eisstückes betrug 215 Meter – fast so hoch wie die Fleischbank-Ostwand! Unter der Wasserlinie muss es Eisvolumina geben, die bis 1000 Meter in die Tiefe reichen. Das entspricht möglicherweise der Masse eines Matterhorns – und der Höhe seiner Nordwand!
Kleine, fünf bis 15 Meter aus dem Wasser ragenden „Miniaturwitze“ (Fanck) werden growler, Brummer, genannt und sind für die Schiffahrt besonders gefährlich.
Grönland gehört zu den kalten Gebieten der Erde. Trotzdem verlieren Eisberge hier im Unter-Null-Grad-Meer an Masse. Vor allem, wenn die lange Mitternachtssonne scheint, werden sie lebendig. Fanck schildert das so:
Jetzt aber kam die Sonne – die grönländische Sonne – diese Sonne, die durch das unendlich viele Eis eigentlich sehr abgekühlt sein sollte, aber doch so erstaunlich heiß ist, dass sie einen geradezu zur Verzweiflung bringen kann. (…) Sie brachte nämlich ein unglaubliches Leben in diese weißen, anscheinend toten Gesellen. Überall wo dieses schöne, auf den ersten Blick so harmlose Eis im Wasser schwimmt (…) fängt es jetzt unter den warmen Strahlen der Sonne an zu krachen, zu bersten, zu kalben, zu trudeln. Jeder dritte Eisberg und jedes zweite Eisbergchen fühlte plötzlich den Ehrgeiz in sich, sein Unterstes zuoberst zu kehren.
Der Erstbesteiger
Unsere kleinen Schlauchboote rollen nach riskantem Kurs durch ein „Gletscher-Manhattan“, einem Gewirr aus enormen Eisbergen, in der langen Dünung der grönländischen Diskobucht. Nicht weit gleißt der Bruch des Jacobshavn Isbrae, das „Superlativ der Glaziologen“.
Die Front des größten Gletscher der nördlichen Hemisphäre kalbt alle zwei bis vier Wochen. Drei bis fünf Kilometer breite Eismassen brechen dann ab. Das ist trotzdem nur ein winziger Aderlass der gewaltigen Eiskappe. Meistens zerschellt die nördlichen Front in „kleinere“ Stücke, während die großen Eisberge vom Südteil auf die Reise geschickt werden.
Der Fjord ist beim Einfluss etwa 1500 Meter tief. Das Gletschereis hat eine Mächtigkeit von 1000 Metern, schwimmt also ohne Grundberührung auf. Über dem Wasserspiegel erreichen die Höhen 70 bis 200 Meter. Die Riesenfront wird durch die Gezeiten ständig drei Meter gehoben und gesenkt.
An der Mündung des Isfjords ist wegen einer unterseeische Rippe die See nur noch 600 Meter tief ist. Kleinere Eisberge werden relativ schnell in die Diskobucht getrieben. Größere bleiben oft Jahre an der Erhebung des Meeresbodens hängen, bis sie soweit abgeschmolzen sind, dass sie über das Hindernis treiben und ihre Wanderschaft in den Atlantik antreten.
Fanck beantwortet die Frage, wer als erster Mensch einen großen Eisberg erklettert hat, mit dem Hauptdarsteller seines Films S.O.S. Eisberg, dem Zehnkämpfer Sepp Rist.
(…) machte er auf seinem Eisberg selbst in unseren Fernrohren nur noch den Eindruck einer kleinen Laus, die da friedlich auf etwas ungeheuer großem Weißen herumkrabbelte. An diesem (…) Vergleichsmaßstab wurde uns damals zum erstenmal klar, was für Kolosse solche Eisberge in Wirklichkeit sind. Er war knapp 100 Meter hoch, und als Rist mit seelenruhigen Schritt auf den Gipfel trat, war das für uns alle eigentlich ein historischer Moment. Denn wenn auch hin und wieder einmal (…) kleinere Eisberge von einzelnen Wissenschaftlern schon vorher bestiegen wurden, so war das doch sicher der erste wirklich große Eisberg, auf dessen Gipfel je der Fuß eines Menschen stand.
Marginalien einer Eisbergbesteigung
Wir treiben inmitten der Diskobucht, jener dichten Ansammlung von Eisbergen, die auf der Welt ihresgleichen sucht. Nahe vor uns steilt sich eine ebenmäßige weiße Fläche auf – ein enormer Eisberg von fantastischer Regelmäßigkeit, gläsern und hell, vielleicht 100 Meter hoch. Sich vorzustellen, dass dieses im Nachmittagslicht so wunderschön leuchtende und unschuldig wirkende Gletscherstück ein Berg mit vielleicht 800 Meter Höhe sein könnte, fordert den mathematischen Verstand und die Phantasie heraus.
Der Franzose Jean-Marc Boivin ist einer der besten Alpinisten und einer der ganz großen Eiskletterer. König der Pickel und Steigeisen oder auch Akrobat wurde er getauft. Seine Kondition und sein Kletterkönnen sind legendär. Vor allem seine unmöglichen enchainements, das Aneinanderreihen von schweren Wänden, haben den Spitzenalpinisten zu einem der besten Bergsteiger der Welt gemacht. Wagemutige Skiabfahrten – unter anderem durch die Ostwand des Matterhorns – machten Furore. Vom Gipfel des Mt. Everest gelang ihm der erste Paraglider-Flug. Jean-Marc will die Wand dieses Eisbergs solo durchklettern. Wir stehen unter Spannung. Wann wird der Ausnahmealpinist einsteigen?
Auch mein Freund Walter Obster und ich erliegen auf einem Segeltörn durch die unentdeckte Bergwelt Südgrönlands der Faszination der schwimmenden Eiswände. In meinem Tagebuch steht:
Nun liegt sie vor uns, die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs in riesiger Realität. Das Ziel: Die Erkletterung des kalten Monsters. Respektvoll hält unser Boot Abstand. Immer wieder platscht ein Eisbrocken ins Meer und verstärkt die Labilität. Überschlägig berechnen wir, dass dieser etwa 80 Meter hohe Brocken vielleicht 500 Meter unter den Wasserspiegel reichen kann und drei bis vier Millionen Tonnen wiegt. Darüber spannt sich die reine Kuppel des Arktishimmels.
Auf Jean-Marc wartet an der aktivsten Eisberg-Geburtsstätte der Nordhalbkugel eine große Herausforderung. Der Wind hat das anvisierte Stück hierher getrieben. In gleichmäßiger Steilheit – unten vielleicht 60 bis 70 Grad und am Ausstieg vertikaler – setzt die Wand übergangslos in der wellenlosen See an.
Der Franzose bereitet sich vor. Weiß er um das Risiko? Kennt er die Geschichte vom Klassekletterer seiner Zeit, Hans Ertl? Der ging auf einem Eisberg fast zugrunde.
Arnold Fanck erzählt spannend:
(…) der Eisberg trudelte. Das Unheimlichste daran war die absolute Lautlosigkeit, mit der sich das Schauspiel vollzog. Oben auf dem Gipfel aber – der jetzt allerdings schon gar kein Gipfel mehr war, sondern schräg nach unten abfallende Eiswand – standen Zogg (Anm: ein weiterer Bergführer der Expedition) und Ertl hilflos, wie auf einer ungeheueren Schaukel, auf der glashart polierten Eisfläche, die unter ihren Füßen steiler und steiler wurde und sich tiefer und tiefer zum Meer hinuntersenkte. (…) Dabei hatten wir uns alle auf die kühne Theorie geeinigt, man müsse in diesem Falle bergauf laufen, um oben zu bleiben, also sich gleichsam wie ein Akrobat auf einer rollenden Kugel zu halten versuchen. (…) Wie diese beiden dort oben auf dem rollenden Eisberg herumliefen – einmal nur noch einige Meter über dem Wasser und gleich darauf wieder haushoch über uns auf dem ständig wechselnden Gipfel: Solch ein bewegtes Bild lässt sich in Worten kaum schildern.
Die Steilheit der Wand ist für Jean-Marc, den Ausnahmealpinisten, eine machbare Herausforderung. Ruhig, überlegt, schnallt er die Steigeisen an und schlüpft in die Schlaufen der Eisklettergeräte. Nicht die Steilheit des Anstieges erschreckt – es ist die Unkalkulierbarkeit des labilen Brocken.
Nur mühsam hindere ich unseren Bootsführer daran, das Gefährt mit einem Haken am Eisberg zu verankern. Wenn der „Kirchturm“ kentert, würden wir entweder unter Wasser gedrückt oder wie auf einer Achterbahn in die Luft geschleudert. Das wäre perfekt vorbereiteter Selbstmord. Wer weiß schon, wie das Gleichgewicht des Eisbergs unter dem Wasserspiegel aussieht und wann das „warme“ Meerwasser es geschafft hat, den stabilen Brocken ins labile Ungleichgewicht zu bringen?
Jean-Marc lässt die Beine mit den spitzen Steigeisen über die Bordwand des Schlauchbootes baumeln, haut ein Eisbeil in den Idealfirn, setzt die Steigeisen ein und zieht sich hinüber.
Die Erfahrungen Fancks bei einem ähnlichen Versuch:
Wer einmal das unheimliche Krachen gehört hat, das oft auf einen einzigen Pickelschlag in der ungeheuren Masse eines unter ungewöhnlicher Spannung stehenden Eisbergs ertönt, der ist für alle Zeiten davon kuriert, den Wänden eines grönländischen Eisbergs mit dem Pickel zu Leibe zu gehen.
Wir lassen die Motoren aufheulen und brausen weg, fort von der Gefahr. Eisberge können nicht nur trudeln, sondern durch die Temperaturdifferenzen zwischen Innen und Außen auch explodieren. In der Masse werden unheimliche Kräfte aufgebaut, die sich urplötzlich lösen können.
Ich erinnere mich an meine Eisbergbesteigung. An eine der großen Herausforderungen, die ein Eiskletterer annehmen kann. Der Plan ist, dass erst ich einen Eisberg erklettere und Freund Walter es danach probieren soll. Wir wollen die riskante Möglichkeit einer Kenterung minimieren. Niemals, das war klar, werden wir gemeinsam, mit Seil und Schrauben gesichert, auf einen der labilen Brocken klettern. Wir wollen nicht – wie weiland die tragische Sagengestalt Prometheus an den Fels – an das kenterbereite Eis geschmiedet sein.
Das Erlebnis vor dem Nup Kangerdlua-Gletscherbruch im südgrönländischen Eismeer sei hier anhand meiner Tagebuchaufzeichnungen geschildert, die unter dem starkem Eindruck einer haarscharf gutgegangenen Eiskletterei niedergelegt wurden.
In der Straße der Eisberge schaukelt die Segeljacht. Kleine Eisstücke verzieren das Meer wie Porzellanscherben. Co-Skipper Folkmar hat mich mit einem Schlauchboot an dem schönen Eisberg abgesetzt.
Nun bin ich allein, unendlich allein. Der Adrenalinspiegel pulsiert ganz oben, Körper und Geist sind sensibilisiert, die Gefahr ist körperlich spürbar. Unschuldig dümpelt der Berg in der leichten Dünung und dreht sich unmerklich in der Strömung. Zu berechnen, wann ein Eisberg seine Lage verändert, ist unmöglich.
Nur ein Narr wird das Risiko bei der Erkletterung eines schwimmenden Eisbergs ignorieren. Wir haben deshalb entschieden, Trockentauchanzüge zu tragen.
Eine erste Steilstufe bietet keine Probleme. Das Eis ist bestens zum Klettern geeignet. Die Frontalzacken der Steigeisen dringen nur einige Millimeter ein, halten aber sicher. Die Hohlrohrhauen der Eisklettergeräte fressen sich ins weiße Firneis. Hüftbreit die Eisen einsetzend klettere ich über eine steile Rampe zu einem flachen Absatz. Unter mir, klein, das gelbe Boot mit Folkmar. Mein Freudenjodler zerreißt die Stille.
In der Diskobucht donnert es. Den nervenstarken Jean-Marc stört das nicht. Am Horizont zerbricht ein Eisberg und lässt hohe Wasserfontänen aufspritzen. Ein hausgroßer Turm zerfällt in kleine Stücke. Hier tummeln sich Tausende Eisberge – doch nicht ein einziger Gipfel ist stabil!
Blendendweiß setzt die Flanke am ruhigen Wasser an. Wir treiben mit den Schlauchbooten im „Eisbergsalat“, während wir über eine halbe Stunde Zeugen eines alpinen Hurrastücks werden, dem Anstieg eines Könners. Beeindruckend sicher klettert Jean-Marc die steile Wand hinauf. Kein Pickelschlag ist zuviel. Jeder Tritt der Steigeisen sitzt. Die direkte Linie erscheint mir zu steil – oben wird sie überhängend. Der kürzeste Weg kann unendlich lang sein. Das schafft auch ein Boivin nicht. So hält er sich auch links und pickelt sich zielstrebig aufwärts.
Schnelligkeit contra Wahrscheinlichkeit
Der winzige bunte Punkt in der nun 80 Grad steilen Wand verdeutlicht die Dimensionen. Unvorstellbar groß wäre die kinetische Energie dieser Masse, wenn sie kentert.
Ich erinnere mich an das eigene Abenteuer.
„Wahnsinn!“ Ich höre die Kommentare bis hier oben. Was für mich bergsteigerischer Alltag ist, muss für die nichtkletternden Segler der Tat eines Selbstmörders ähneln. Zwischen den Beinen und durch die Frontalzacken der Steigeisen sehe ich nur Wasser und Eis. Einen Fehler darf ich nicht machen. Ein Vierzigmeterfall auf das Wasser ist wie ein Sturz auf Beton.
Der Gipfel wird durch eine stufige, teils senkrechte Wand geformt. Konzentriert pickele ich hinauf. Es ist ein unglaubliches Gefühl, viele Meter über dem Meer zu stehen. Was passiert, wenn das riesige Eisstück seine Lage nur um einige Grade verändert? Oder der Berg gar durchdreht?
Ich schlage die Eisgeräte weit oben ein und ziehe mich daran hoch. Die Beine baumeln kurz in der Luft. Ein Klimmzug – dann stehe ich auf dem messerscharfen Gipfel. Unter mir bricht das Eis überhängend zum Meer ab – eine Exposition, wie sie in einer Wand im Gebirge selten ist. „Schnelligkeit contra Wahrscheinlichkeit“ muss das Motto sein. Ich richte mich auf dem spitzen Gipfel kurz auf – und klettere sofort wieder abwärts.
Beim Übergang der Gipfelkalotte in die senkrechte Wand haue ich die Eisgeräte so tief wie möglich ein, schwinge mich daran hinunter und schlage die Steigeisen aus dem Knie heraus mit Schwung ein.
Dann stehe ich auf einer flachen Schulter, hämmere zwei Haken ins Eis, knüpfe eine Reepschnur zu einem Kraftdreieck und klicke den Karabiner ein. Ich zerre das Seil aus dem Rucksack, fädle es durch die Fixierung und werfe es aus. Ein prüfender Ruck an der Verankerung – und dann beginne ich mit der seltsamsten Abseilfahrt meines Lebens.
Bald pendle ich unter einem Eisüberhang. Schmelzwasser tropft auf den Tauchanzug.
Folkmar treibt mit seinem Schlauchboot direkt unter mir. Frei hänge ich in der Luft und drehe mich über dem empfindlichen Dinghi. In rasanter Abseilfahrt bin ich schnell über ihm und strecke die Füße mit den spitzen Steigeisen hin. Er hebelt den Kippverschluss auf, löst die Fangriemen und nimmt die Eisen ab. Mit dem einen Ende des Doppelseiles in der Hand sitze ich auf der Vorderbank. Der Skipper gibt Rückwärtsgas. Und schnell sind wir aus dem Gefahrenbereich. Das Seil klatscht hinter dem Boot ins Wasser.
Ein Eisberg ist bestiegen, und alles verlief reibungslos. Hatten wir uns zu lange verrückt gemacht? Überschätzten wir das Problem?
Ich verdränge die Erinnerungen und beobachte Jean-Marc, der mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Wand klettert. Dann steht er auf dem Grat, der zum Gipfel führt und den er sich spart: Der Weg war das Ziel.
Welcher Kletterer kennt nicht das sinnliche Vergnügen, sich mit etwas auseinanderzusetzen, von dem man weiß, dass man es weder kalkulieren und schon gar nicht beherrschen kann? Wir applaudieren und freuen uns. Jean-Marc jauchzt uns zu. War es für ihn nur ein Eiswandalltag? Nichts Besonderes? Er ist ein Könner, aber er hatte auch Glück!
Wie dramatisch endete es bei Walter, der nach mir auf den Eisberg stieg. Wieder ist das Tagebuch eine zuverlässige Gedächtnishilfe.
Scheinbar solide und zuverlässig liegen Hunderttausende Tonnen Eisberg im ruhigen Wasser. Auch Walter hat sich vom Schlauchboot absetzen lassen. Sorgfältig richtet er die Klettergeräte. „Walter! Schneller!“ flehe ich im Stillen, verfalle jedoch der Schönheit des Anblicks. Da steht ein bunt gekleideter Mensch im Steileis, nur mit den Steigeisen in die Basis eines Kolosses gekrallt. Fantastisch hebt sich der Kletterer gegen das leuchtende Weiß ab …
„Er kentert!“ brüllt jemand auf der Jacht. Kitschig und kinoreif spult ab, was wir in unseren Alpträumen schon längst erlebt haben. Das Gebirge aus Eis neigt sich – ein unwirklicher Anblick, wie in einem Horrorfilm. Ein ganzer Häuserblock kippt langsam um. Unheimlich tönt das Knarren und Knacken zu uns herüber. Ein turmhohes Stück bricht ab und verändert die Lage des Riesen noch mehr.
„Wo ist Walter?“ Der Schrei gellt in die Weite des Meeres. Ich weiß plötzlich, dass es passiert ist. Die grässlichen Möglichkeiten – sind sie eingetroffen? Sekunden können zur Ewigkeit werden.
Wo ist Walter? Der„Gipfel“ der ungeheuren Eismasse verharrt wenige Meter über dem Wasser und pendelt dann unmerklich zurück. Wir sehen einen schwarzen Punkt in der nun schäumenden See unter einer Hohlkehle im Eis. Das muss Walters Kopf sein. Folkmars Schlauchboot braust darauf zu – und entfernt sich dann mit Vollgas vom schwankenden Eis. Walter? Er muss am Boot hängen! Wir ahnen, dass er doch nicht tot ist, ersäuft oder erschlagen, wie ich es mit Entsetzen noch vor Sekunden erwartete. Folkmar wird es schaffen!
Das Dinghi tuckert längseits. Der Freund liegt pudelnass im Boot. Der Tauchanzug hat ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Sein Gesichtsausdruck erinnert an jemanden, der von einem Blitz getroffen wurde. Die Handknöchel sind aufgeschürft, und er steht unter Schock. Sonst fehlt ihm nichts.
Drüben wippt der noch vor wenigen Minuten höchste Punkt flach über dem Wasser. Die Abseilverankerung taucht sprudelnd im Eismeer ein.
Was war passiert? Walter, noch am Anfang der Kletterei, wurde, als der Berg trudelte, unter Wasser gedrückt. Wie tief, weiß er nicht mehr. Er löste geistesgegenwärtig seine Eisgeräte und wurde vom Trockentauchanzug nach oben getragen.
Es war ein großes Glück, dass die Falle nicht zuschnappte. Dass die Hohlkehle des Eisüberhanges nicht durchkenterte. Und dass Walter ein glänzender Schwimmer ist. Wahrscheinlich der einzig erfolgreiche mit Steigeisen und Bergschuhen im Eismeer! Und dass wir uns nach langer Diskussion entschieden, nur solo zu klettern. Und Tauchanzüge anzuziehen. Und dass Folkmar im richtigen Moment die richtige Entscheidung traf. Kaltblütig. Und … und … und. Es ist gutgegangen. Haarscharf!
Der wahre Held ist Folkmar. Er war Spitze. Wir tauften deshalb den vergänglichen Eisberg Folkmars Toppen – nach alter grönländischer Manier.
Walters Schock behandeln wir schnell und sehr effektiv mit einem Gegenschock. Ich schicke ihn mit einem wichtigen Auftrag unter Deck. Er ist sowieso mit Kombüsendienst an der Reihe und soll Kartoffeln für das anstehende Abendessen schälen…
Die Erinnerungen an das Beinaheunglück vor zwei Jahren verscheuche ich. Der Küchendienst wirkte damals tatsächlich. Der Freund klettert noch immer – auch im Eis!
Russisches Roulette
Unsere Boote schaukeln im Sonnenlicht. Wir sind mit Jean-Marc vereint, der lebhaft seine Besteigung erzählt. Er hebt die rechte Hand, setzt den Zeigefinger an die Schläfe, streckt den Daumen nach oben und sagt laut und für alle Nationen verständlich: „Tick, tick, tick …. Peng.“ Wir lachen, und unser Blutdruck nimmt wieder Normalwerte an. Die Besteigung war tatsächlich Russisches Roulette.
Man kann in Eisbergen bedrohliche Massen sehen oder unbeschreiblich schöne Gebilde. Sie sind so, wie sie sind. Völlig neutral, ohne Emotionen. Und gefährlich, wenn man ihnen zu nahe kommt.
„In der Arktis ist sowohl zuwenig wie auch zuviel Mut fehl am Platz; sie verlangt Ausgeglichenheit“ – heißt es beim Polarforscher Amundsen. Dem ist auch vom alpinisten Standpunkt nichts hinzuzufügen.
Im Duo „objektive und subjektive alpine Gefahren“ treffen bei einer Eisbergbesteigung beide in höchstem Maße zusammen. Objektiv ist nie zu kalkulieren, wann ein Eisberg kentert oder trudelt. Subjektiv ist der ein Idiot, der darauf herumklettert.
The Playground of Europe
Nirgends auf der Erde gibt es noch so viele unbestiegene Berge und unentdeckte Regionen, wie in den Polargebieten von Grönland und der Antarktis. Toni Hiebeler schrieb schon Ende der siebziger Jahre:
Nur wenige wissen, dass sich die Gebirgskette (Anm: von Grönland) (…) an Ausdehnung und Länge sogar mit dem Himalaya messen kann. (…) Und vor allem ungezählte, vollkommen unberührte Berge, die noch nicht einmal einen Namen haben. Wer, in vollkommener Abgeschiedenheit, sich in die Goldene Zeit des Bergsteigens versetzen will, für den ist Grönland vielleicht das letzte wahre Paradies.
Unausweichlich wird diese Tatsache mehr und mehr Bergsteiger anziehen. Als neuer Playground of Europe des anbrechenden Millenium werden die „letzten weißen Flecken“ in der Szene gehandelt. Hier liegt die Zukunft des Entdeckerbergsteigens. Unausweichlich ist damit auch, dass aktivitätshungrige Kletterer mit Eisbergen konfrontiert werden – und ihrer Faszination erliegen!
So auch Stefan Glowacz und Co., die kürzlich in der Antarktis klettertechnische Maßstäbe setzten, aber auch der Eisbergversuchung nicht widerstehen konnten.
Eine Bucht, in der riesige Eisberge stranden, macht uns neugierig. Sensationelle Bilder kann man hier machen, die Filmkamera wird geschultert, Eisklettern im Meer. Keine leichte Sache, und Jürgen (Knappe) sagt, das Eis stehe unter einer merkwürdigen Spannung, er höre das am Klang des Eisgerätes. Merkwürdig dumpf, der Ton. (…) Doch alles geht gut, also noch schnell mit dem Dinghi zu einem anderen Eisberg. Doch schon der erste Schlag war alarmierend dumpf, zehn Meter weiter ein erneuter Versuch, wieder ein Schlag in das Eis – plötzlich bildet sich über die gesamte Breite des Eisbergs ein Riss! Der Bootsmann gibt Gas, in diesem Moment bricht eine Scholle, etwa einen halben Meter dick vom Eisberg ab. Krachend, genau zwischen Schlauchboot und Eisberg, stürzt der Riesenklumpen ins Meer. Die große Welle hat die Crew im Boot überstanden, doch das Eis taucht prompt unter dem Dinghi wieder auf, und alle werden herausgeschleudert. (…) Die Freunde, die im eiskalten Wasser schwimmen, mit Eisgeräten an den Armen, können sich alle wieder ins Dinghi retten.
Wenn es denn sein muss: Auf einen Eisberg steigt man nur solo, mit Tauchanzug – und sehr, sehr schnell!
Eisberge sind keine Ziele für Eiskletterer. Sie werden immer ein Hasardspiel bleiben, bei denen es auf Können allein nicht ankommt. Es ist nicht das Schlechteste, die eigene Feigheit zu kultivieren.
(Jean-Marc Boivin wurde wenige Monate nach der geschilderten Eisbergbesteigung ein Opfer seiner Leidenschaft. Er verunglückte beim Paragliden tödlich.)
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