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MICHAEL VOGELEY

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Tunu heißt „Rückseite des Landes“

Langlauf- und Hundeschlittentour im menschenleeren Inselgewirr der Ostküste Grönlands

Text und Fotos: Michael Vogeley und Ingrid Ferschoth-Vogeley für Schwarz auf Weiss

Die Wolle der Lämmer

Beim Flug über das endlose Inlandeis der größten Insel der Erde fühlt man sich schon fast „reif für die Insel“. Von hier oben in 10.000 Meter Höhe wirkt es weich und flauschig, erinnert an die feine Wolle am Bauch weniger Wochen alter Lämmer. Der pechschwarze Kaffee schmeckt besser als in Europa. Oder sind wir nur verklärt durch den wilden Ausblick, der uns milde stimmt? Ist es die Euphorie, dass ein großes Abenteuer jetzt wirklich beginnt?

Reisen in Grönland ist so, als ob man das aller erste Mal unterwegs wäre. Geografisch gehört es zu Amerika, politisch wird die Insel noch immer von Dänemark beherrscht. Die Lage im nördlichen Atlantik, umgeben vom Eismeer, lässt kalte Meeresströmungen entstehen, welche die Insel umspülen. Die Küstengebiete werden ständig gekühlt, was mit der Kälteabstrahlung des mächtigen Inlandeises, der größten Eismasse der nördlichen Globushälfte, das arktische Klima verursacht. Der Panzer des Inlandeises bedeckt etwa 85 % der Gesamtfläche Grönlands. Unglaubliche 2.500 km sind es in nord-südlicher Richtung, und in West-Ost-Richtung sind es immerhin noch 1.000 km.

Reykjavík auf Island hatte unsere kleine Gruppe so empfangen, wie wir die Insel aus dem Wetterbericht kannten: stürmisch, nass und kalt. Wir hatten einen Tag dazu benutzt, die Stadt und ihre nähere Umgebung zu erkunden. Wir waren ein zusammengewürfelter Haufen, der ein „Arktisches Wintermärchen und Abenteuer im Eis“ erleben wollte. Die meisten hatten nicht nur Respekt vor der Urnatur, sondern auch vor diesem Pioniertrekking, deren Protagonisten wir sein würden. Keiner der Gruppe konnte so recht definieren, wie er sich das „Arktische Wintermärchen“ vorstellte, aber jeder machte deutlich, dass er etwas ganz Besonderes, ja Einmaliges erwartete.

Wir sind ein Dutzend Männer und Frauen. Unser Start ist der kleine Ort Kap Dan in der fast menschenleeren Tassilaq-Region Ostgrönlands. Von dort wollen wir auf Langlaufskiern, begleitet von inuit, die auf Hundeschlitten unser Gepäck transportierten, mehrere Tage die grönländische Eiswildnis erkunden.

Beim Beladen des gecharterten kleinen Flugzeugs in Keflavik, dem Flughafen von Reykjavik, legen wir alle selbst Hand an. Eine bezeichnende Geste für die ganze Tour. Denn bei dieser Reise ist Kameradschaft ebenso wichtig wie Kondition. Wir teilen ja nicht nur die Biwaks, sorgen für die Verpflegung und verrichteten alle damit zusammenhängenden Arbeiten selbst. Das Gelingen eines solchen Trekkings ist nicht käuflich. Nur die ermüdende Organisation wurde uns abgenommen. Das Abenteuer wird dadurch nicht geschmälert, sondern durch den Freiraum des „Nicht-soviel-organisieren-müssens“ eher verstärkt.

Tunu, Rückseite des Landes, heißt die Ostküste auf inuktitut, der Sprache der Grönländer. Wegen der geografischen Lage und der schwierigen Eisverhältnisse war die Gegend um die „Stadt“ Tassilaq lange isoliert. Hier hat sich ein spezieller ostgrönländischer Dialekt entwickelt. Erst vor 100 Jahren entdeckte der Däne Holms auf einer Bootsexpedition mit umiak, den fellbespannten Booten der Inuit, einen auf steinzeitlicher Stufe lebenden Eskimostamm. In Ostgrönland, mit einer fast 3000 km langen Küste, an der nur etwa 3000 (!) Menschen leben, sind die Jagd und der Fischfang noch immer der wichtigste Wirtschaftszweig.

Die Trauminsel unter der Mitternachtssonne liegt nahe an Europa. Kaum fünf Flugstunden sind es von Kopenhagen nach Süd- oder Westgrönland. Superlative gibt es zahlreiche: die größte Insel der Welt, die größte Eiskappe nördlich des Äquators, die meisten Inuit-Siedlungen, die aktivsten Gletscher des Globus, der größte Nationalpark – und die freundlichsten Menschen!

Wegen der kurzen Entfernung nach Island und der günstigen Flugverbindungen erhält die Gegend um Tassilaq seit langem Besuch von Touristen, die „einmal in Grönland gewesen sein wollen“. Abgesehen von der großartigen Natur wird die Ostküste auch wegen ihrer hübschen Handwerksarbeiten geschätzt. Das Fjord- und Inselgewirr ist ein ideales Langlauf- und Hundeschlittenrevier. Hinter Tassilaq beginnt die Eiskappe. Der Empfang in Kulusuk, dem einzigen Flughafen an der fast unendlich langen Küste Ostgrönlands, ist stilecht. „Unsere“ Hundeschlittenführer erwarteten uns. Wir schnallen zum ersten Mal unsere neu erworbenen Cross-Country-Ski an, um die wenigen Kilometer zum Dorf Kap Dan, der ersten Station unserer Tour, auf langen Latten zurückzulegen.

Das breite, freundliche Lächeln unserer Begleiter ist ebenso beruhigend wie unsere erste Unterkunft, eine für grönländische Verhältnisse komfortable Hütte mit Küche und Aufenthaltsraum, die sogar über eine winzige Dusche verfügte. In diesem „base camp“ überstehen wir auch den nächsten Tag, der uns mit einem milden pitteraq, einem grönländischen Blizzard mit nur hundert Stundenkilometern, an das Haus fesselt und den Respekt vor der ungestümen Natur verstärkt, der wir uns ausliefern wollen. Unsere letzten Vorbereitungen, wie Zeltaufbau, Ausrüstungsprüfung und Kochertests finden im Haus statt. Die „Großstädte“ ab etwa 700 Einwohnern unterscheiden sich in ihrer Infrastruktur kaum von europäischen größeren Siedlungen. In den kleinen Dörfern jedoch trifft man auf eine Bevölkerung, die dem Rhythmus der Vorzeit folgt. Die Menschen haben es nicht so eilig. Es gibt kaum Straßen, dafür um so mehr Pfade, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängeln.

Vielleicht ein Geschäft, das auch zugleich Postamt ist, eine Schule, eine Kirche und ein kleines Elektrizitätswerk. Die Einwohner sind meist Selbstversorger und leben fast ausschließlich vom Fischen und der Jagd. Die Neuzeit hat längst ihren Einzug gehalten: mit Satellitenfernsehen, Fieberglasbooten mit Außenbordmotor und Lebensmitteln, die in Kopenhagen genauso zu finden sind.

Willkommen in der warmen Arktis

Der nächste Tag lässt alle Bedenken vergessen. Die Sonne knallt von einem wolkenlosen Aprilhimmel – in dieser Zeit ist in Grönland das perfekte Schlittenwetter. Drunten am Meer ist eine straff gespannte Kette mit den Hunden verankert. Die Huskies aalen sich im flockigen Schnee, und beim Aufstellen der Gespanne gibt es die ersten Scharmützel. Frell, einer der Hundeschlittenführer, schafft mit undemokratischer, aber effektiver Justiz, unterstützt von etwas handfester Pädagogik, Ordnung in den Reihen. Der Grönländer Nathaniel greift in das infernalische Knäuel, klinkt den Meuteführer aus, stellt ihn sich zwischen die Beine, zieht ein Zuggeschirr aus Robbenleder aus der Anoraktasche und streift es dem bellenden Tier über. Das Rudel jault, kläfft und heult und ist voll Erwartung und Sehnsucht. Jedes der Tiere will einer der zwölf Zughunde sein, die wir heute vor die Schlitten spannen. Das schwere Holzgefährt mit den massiven, blechbeschlagenen Kufen nimmt ruckartig Fahrt auf.

Die Monate März, April und Mai sind die besten, da das Meer noch gefroren ist, es hell genug ist und die Temperaturen ansteigen. Wir starteten bei strahlendem Sonnenschein hinaus auf das gefrorene Meer und hinein in die unwirklich schöne arktische Natur.

Die Ski gleiten gut auf dem eisigen Untergrund mit pulvriger Schneeauflage. In der Ferne blinkt Land, das nie begangen wurde. Tausende Kilometer unbewohnter Küstengebiete. Nordische Landschaft, unermesslich, unberührt, einmalig. Eisgipfel und Schneeberge, die alpine Dimensionen erreichen. Jahrtausende altes Eis, ständig in Bewegung, bizarr, skurril, fantastisch. Eisberge von bizarrer Schönheit säumen die „Loipe“: Gebirge im Meer, wohnblockgroß, städtegroß, winzig. Alle Formen und Größen, Farbsymphonien in Blau, Türkis, Weiß, Grau, Schwarz und Rosé, matt und durchsichtig wie Glas. Wir fühlen uns der Schöpfungsgeschichte ganz nahe.

Die glasklare Stille wird nur vom Hecheln der Hunde und dem Rattern der Schlittenkufen auf dem Eis unterbrochen: unser Arktisches Wintermärchen. Die keuchenden Hunde dampfen. Zwölf perfekt geschwungene Hundeschwänze bezeugen, das der „Motor auf allen Zylindern gut läuft“. Und wir rümpfen auch nicht die Nase über die „Auspuffgase“. Bei einer Rast erreicht ein amouröses Abenteuer mitten im Gespann seinen fleischlichen Höhepunkt, ohne erkennbaren Verdruss des Nebenhundes.

Der unersetzliche Schlittenhund

Mit ihren Hunden verbindet die Inuit eine unsentimentale Beziehung. Während der ersten vier Monate werden die Welpen sorgsam aufgezogen und sogar für die Kinder zum Spielen mit ins Haus genommen. Danach leben sie nur noch im Freien und müssen sich ihr Futter im Schlittengespann hart erarbeiten. Um die jungen Hunde auszubilden, lässt man sie auf längeren Strecken mit erfahrenen Hunden laufen. Während dieser Zeit lernen sie, der Peitsche und den Kommandos zu gehorchen und finden ihren Platz in der Rangordnung. Schwache oder schwer erziehbare Tiere werden getötet. Mit sieben Monaten kommen sie ins Geschirr, das sie ihr Leben lang nicht mehr ablegen. Trotz des Motorzeitalters gibt es noch etwa 15.000 (!) Schlittenhunde auf der Insel, die für Jagd, Fischerei und Tourismus eingesetzt werden und eine alternative Existenz erhalten helfen.

Grönlandhunde werden selten älter als acht Jahre. Dann sind ihre Lungen durch die eiskalte Luft verbraucht, und ihr Fell ergibt den begehrten Kapuzenrand mit den seidenweichen Haaren. In dieser Zeitspanne legen sie Tausende von Kilometern zurück. In der rauen Natur ist das Hundegespann noch immer das verlässlichste Transportmittel. Ein Gespann, das je nach Geschick und Wohlstand des Besitzers fünf bis 15 Hunde stark ist, ist nach wie vor der wertvollste Besitz eines jeden Jägers. Sie werden mit der Peitsche dirigiert, die bis acht Meter lang ist. Der Fahrer ruft dazu „ILI, ILI, ILI, ILI“ für rechts, „IU, IU, IU, IU“ für links. Die Hunde sind nicht unbedingt zahm – das liegt in ihrer Natur und der Haltung. Wir versuchen nicht, sie zu streicheln. Es sind keine Kuscheltiere.

Schlitten mit blechbe-
schlagenen Kufen

Als das Thule-Volk um 1000 n.Chr. in Nordgrönland einwanderte, war es mit seinen Kenntnissen allen anderen Kulturen überlegen, was vor allem auf den Gebrauch des Hundeschlittens zurückgeführt wird, mit dem man 80 Kilometer am Tag zurücklegen konnte. qamutit, der Schlitten, hat sich in den letzten 1000 Jahren kaum verändert. Zwei vorn hochgezogene Holzkufen werden durch eine Reihe von Querlatten mit Riemen oder Schnüren verbunden, die dem Gefährt eine unwahrscheinliche Stabilität und Flexibilität auf dem Raueis und im Gelände geben.

Hundeschlitten sind die ursprünglichsten Transportmittel der Inuit. Jäger und Fischer, die mit Netzen und Langleinen auf dem zugefrorenen Meer Robben und Fische fangen, brauchten – und brauchen – Hundeschlitten für den Rücktransport der mehrere hundert Kilo schweren Beute.

Das lebenstüchtigste Volk des Globus

Der Tourismus ist weltweit zu einer gewaltigen Industrie angewachsen. Mancher wird dies beklagen. Andererseits ist er der Hoffnungsträger für arme Länder. In Grönland beträgt die Arbeitslosenrate um 50 Prozent. Auch der Trekking-Tourismus hat seinen Preis: Der Trekker konsumiert Kultur und Natur. Beide sind empfindlich. Zum Tourismus gibt es jedoch oft keine Alternative, um Arbeitsplätze zu schaffen und wirtschaftliche Existenz zu sichern. Tourismus ist nicht zu verharmlosen, er ist aber auch nicht zu verteufeln. Positive Nebeneffekte sind die Erhaltung kultureller Eigenarten, die sonst in der Härte des täglichen Lebens untergehen würden. So helfen touristische Hundeschlittentouren, die Kunst des Schlittenfahrens und die Hundezucht zu erhalten. Tourismus ist dann zu rechtfertigen, wenn die negativen Auswirkungen geringer sind als die durch Handlungsverzicht verursachten Übel.

Erst seit ungefähr 30 Jahren hat sich die Insel dem Tourismus geöffnet. In dieser kurzen Zeit hat Grönland eine überaus rasante Entwicklung genommen. Einerseits versucht man, die eigenen „Wurzeln“ wieder zu entdecken und neu zu beleben, um so zu einer kulturellen und sozialen Identität zu finden. Denn die Inuit wurden innerhalb weniger Generationen aus der Steinzeit in die Moderne katapultiert, was sie nicht unbeschadet überstanden haben. Andererseits bringen der technische Fortschritt und der Import westlicher Wertmaßstäbe und Statussymbole eine Fülle von wirtschaftlichen, ökonomischen und sozialpolitischen Problemen. Trotzdem sind die Grönländer ein liebenswertes Volk geblieben. Optimistisch blicken sie in die Zukunft, was vielleicht eine Folge der langen Tradition des Überlebens in einer der unwirtlichsten Umgebungen dieser Erde ist. Tradition und Moderne begegnen sich in Grönland auf Schritt und Tritt. Hier der inuk (der Singular von Inuit), der matjak, die rohe Haut des Wals, wie seit Jahrtausenden am Mund mit dem Messer abschneidet und roh verzehrt. Dort ein Hundeschlittenführer, der im modischen Shirt und mit Schirmmütze in die Kamera lacht.

Heute fühlt sich Grönland – Kaallit nunaat, das Land der Menschen – als eigene Nation. Die wirtschaftliche Situation ist nach wie vor schwierig, und ohne die Unterstützung der Dänen wäre sie noch desolater. In neuester Zeit bildet der zunehmende Tourismus eine wichtige Erwerbsquelle. Mit der touristischen Öffnung 1953 hatte die grönländische Selbstverwaltung bestimmte Prämissen verbunden. Eine davon ist die Förderung der Gruppenreisen und die Reduzierung des Individualtourismus. Da die Unterkunfts- und Transportmöglichkeiten sehr beschränkt sind und sich der Tourismus wetterbedingt nur auf wenige Monate des Jahres konzentriert, würde ein unkontrollierter Individualtourismus zu Lasten der Bevölkerung gehen. Gruppenreisen bedeutet hier nicht Massentourismus, sondern Kanalisation der Besucher. Die unberührte arktische Natur und die Ursprünglichkeit des Lebens, verbunden mit der Liebenswürdigkeit und Offenheit der Grönländer, ist für immer mehr zivilisationsmüde Menschen sehr anziehend.

Es ist ein „Volk im Aufbruch“. Die Situation an der Ostküste Grönlands ist nur bedingt repräsentativ, zeigt jedoch die Situation, wie sie in vielen Arktisdörfern typisch ist. Viele betrinken sich fast täglich, konsumieren Bier, Schnaps und Zigaretten bis zum Umfallen. In den vierziger Jahren mussten die besiegten Dänen den US-Streitkräften die größte Insel der Erde überlassen. Die Inuit kamen mit den Lebens- und Rauschmitteln des Westens in Berührung. Eine eskalierende Situation ähnlich der Indianer im Westen der USA. Als Hoffnung für Ostgrönland bleibt nur der Tourismus.

Nathaniel ruft ein langgezogenes „Hoooo“, und der Schlitten kommt knirschend zum Stehen. Der inuk bückt sich, zieht den dicken Fausthandschuh aus und fährt mit den Fingern eine Kontur im Schnee ab. „Nanooq“, murmelt er. Wir erkennen die tiefen, vielleicht 20 cm langen Tatzenabdrücke: Hier ist vor kurzem ein Bär gelaufen. Mehr als ein Dutzend Eisbären werden jährlich in der Arktis in Notwehr getötet. Wenn sie hungrig sind, haben sie nur eines im Sinn: Töten und Fressen. Ein Mensch ist dabei eine leichte Beute und willkommene Abwechslung auf der Menükarte. Der Speiseplan der Eisbären besteht zu 100 Prozent aus Fleisch.

Wir rasten im Windschutz einer Eisrippe. Thomas greift zu seinem Gewehr, hängt das Fernglas um und klettert auf die blauschimmernden Würfel. Lange sucht er den Horizont ab. Wo ist nanooq? Der Bär ist der „Königsfang“ für jeden Inuit. Eisbären können bis zu einer Tonne schwer werden. Ein ausgewachsener Bär frisst jährlich bis zu 80 Robben. Der „polar bear“ ist eine perfekte Tötungsmaschine. Seit 1973 ist der Eisbär dank internationaler Regelungen in fast der gesamten Arktis geschützt. Mittlerweile gelten die Eisbären in der gesamten Arktis als nicht mehr gefährdet. Aber Inuit dürfen das größte Landraubtier der Erde in begrenztem Maße jagen.

Im Fangsthus

Die fast 3000 Kilometer lange grönländische Ostküste ist einer der menschenleersten Flecken des Erdballs. Die Szenerie ist hochalpin. Steile Granitberge bestimmen den Horizont, Eisberge sind pittoreske, eingefrorene Fotomotive. Die vereisten Fjorde und flachen Inseln sind ein Schlitten- und Langlaufterrain wie aus dem Lehrbuch.

Müde erreichen wir mit den Strahlen der untergehenden Sonne unser Biwak. Das Fangsthus, eine Jagdhütte, ist ein primitiver Holzverschlag in der wir kochen – geschlafen wird in Zelten. Der Primuskocher summt, und alle freuen wir uns auf heißen Tee, Suppe, Trockenmenüs und Pemmikan. Nachts fegt bunter Arktiszauber über den blauschwarzen Sternenhimmel. Wir bewundern die Schleier des Nordlichts, die sich geheimnisvoll tanzend am dunklen Himmel bewegen.

Der nächste Tag ist wieder strahlend schön und bringt eine enorme Erhöhung der Geschwindigkeit durch die Entdeckung der „Schlepplifttechnik“. Jeweils drei von uns hängen sich mit Stricken an einen Schlitten und lassen sich ziehen – das etwas andere Skijöring. Am Anfang gibt es einige kapitale Stürze. Denn wir fahren ja nicht auf einer glatten Eisbahn, sondern werden vom Schlitten auf manchmal halsbrecherischem Terrain Schneewehen und Eisaufbrüche gezogen. Raues Terrain führt unausweichlich zu einem Leinenchaos bei den Schlittenhunden, das unsere Inuit ebenso geschickt wie geduldig und unmissverständlich autoritär entwirren.

Nach der Überquerung des Sermiligaq-Fjords erreichen wir am Abend das gleichnamige Dorf, das von Jägern und Fischern bewohnt wird und sich unter steile Berge duckt. Der dänische Dorflehrer ist froh über die Abwechslung stellt uns seine Schule mit Küche und Kirche zur Verfügung. Kinder lachen uns an, Jäger nicken anerkennend, Frauen betrachten uns zaghaft. Grönländer sind fröhliche Leute. Ihre Gastfreundschaft ist beispielhaft. Die Igloo-Zeit jedoch ist vorbei. Auch in Grönland wohnen die Menschen in Häusern.

„Wo die Eisberge herkommen“ heißt Sermiligaq übersetzt, ein Platz mit einer Kulisse von kaum vergleichbarer Schönheit: Im niedrig stehenden Licht der untergehenden Sonne leuchten die Berge rund um den Fjord pastellfarben auf. Die Stimmung der Arktis, die Farben und die Landschaft haben sich unserer Sinne bemächtigt. Wir fühlen uns vollkommen weltfern. Neugierige Kindergesichter drückten sich an die Fenster „ihrer“ Schule und beobachteten unser Tun. Treten wir in die eisige klare Luft, hängte sich die Kleinen ungeniert an uns, scherzen in unverständlichem inuktitut mit uns und versuchen lachend, auf unseren Skiern fortzulaufen.

Duell auf grönländisch

Eingezwängt in ein Bürgerhaus steigt die Temperatur allmählich auf Hemdsärmelniveau an. Der Kaffee ist ausgetrunken, der Kuchen seit langem verspeist. Jetzt kommt der Höhepunkt: Ein Trommeltanz, bei dem zwei Fänger einander herausfordern. Die Inuit rundum sind sichtlich stolz darauf, dass hier eine alte Tradition überliefert wird. Das ist keine Touristenschau, sondern ein echter Kampf. Die Gesänge verstehen wir nicht, der Rhythmus ändert sich abrupt, aber über die Bedeutung gibt es keinen Zweifel. Wir werden Zeugen eines Duells, bei dem es nicht um Leben und Tod, sondern um Ehre und Würde geht. Die Duellanten singen sich abwechselnd an, während die Trommelstöcke auf der Seehundhaut hämmern. Es wird von oben nach unten getrommelt, und der Rhythmus wird durch starke Bewegungen des Unterleibs unterstrichen. Die Spannung ist auf dem Siedepunkt. Die Inuit rundum grinsen. Wir können daraus ablesen, dass es darum geht, einander lächerlich zu machen – und dass dies beiden Duellanten sehr gut gelingt. Der Beifall markiert ein Unentschieden. Ursprünglich war der Trommeltanz das Medium für die Überlieferung von Mythen und Erzählungen, oder er sollte der Besänftigung der Geister dienen. Aber auch der Lösung von Konflikten, indem man versuchte, seinen Gegner lächerlich zu machen. Der am meisten Beklatschte gewann die Sympathien – und damit den Streit. Früher musste der Verlierer sein Heimatdorf verlassen, um das Gesicht zu wahren.

Wie immer in der Arktis, bestimmt das Wetter den Reiseplan. Die starke Sonne der vergangenen Tage hat das Eis an vielen Stellen so unsicher gemacht, dass wir unsere geplante Rundreise verändern müssen. Denn unsere Route führt zu fast nur über zugefrorenes Meer. Die Hunde jaulen, sie sind wie immer begierig zu laufen. Tagelang kurven wir durch die Fjorde und das Inselgewirr. Am Knut-Rasmussen-Gletscher schießen wir spektakuläre Bilder unter der Abbruchkante. Knud Rasmussen, der berühmte Polarforscher, erforschte auf seiner „literarischen Grönlandexpedition“ mit Hundeschlitten den Norden Grönlands. Rasmussen, dessen Großmutter Grönländerin war, beherrschte nicht nur die Sprache, ihm waren auch der Umgang mit dem Hundeschlitten vertraut sowie die wesentlichen eskimoischen Überlebenstechniken.

Nach abenteuerlichen Tagen starten wir wieder Richtung Kap Dan. Diesmal ist uns die märchenhafte Kulisse der eingefrorenen Eisberge vertrauter. Wir begegnen anderen Hundeschlitten, die von Sermiligaq nach Tassilaq unterwegs sind, um die geangelten und tiefgefrorenen Heilbuttfänge zu verkaufen – Hallo und ein Schwätzchen. Diesmal ist das Biwak schon etwas Vertrautes. Jeder scheint seine Aufgabe zu kennen. Im Nu sind die Zelte aufgebaut, und in einer vom Kocher aufgeheizten Hütte werden die eindrucksvollen Tage resümiert. Jetzt kann auch unser Jüngster darüber lachen, dass er bis zu den Hüften ins Eis einbrach. Geschockt vor Kälte und gebeutelt vom Schreck, war er von einem der Inuit auf seinen Schlitten gezogen worden. Er war neben der Schlittentrasse gelaufen!

In der Dämmerung füttern wir die Hunde, die müde und zufrieden an ihrer Kette liegen. Nathaniel schlägt mit einer großen Axt aus einem hartgefrorenen Seehundschlegel faustgroße Stücke. Sofort entsteht eine wüste Rauferei. Der Sieger schlingt das steinharte Fleisch hinunter.

Hunde haben die Polargebiete erobert – nicht der Mensch. 1892 erforschte der amerikanische Admiral Robert Peary mit Hundeschlitten den Norden Grönlands. Er durchquerte das Inlandeis von Qanaq (Thule) bis zum Independence-Fjord. Später erreichte Peary möglicherweise auch den Nordpol. 1978 glückte in 93 Tagen dem Japaner Uemura, 1988 einer internationalen Expedition die Längsdurchquerung mit Hundeschlitten über 2.700 km. Schlittenhunde waren der Schlüssel für die Besiedlung der Arktis und die Eroberung der Pole. Nansen erreichte mit Hunden und mit seinem Begleiter Johannsen den 86. Breitengrad – damals ein Rekord. Peary war erfolgreich, als er den Nordpol vom kanadischen Inselarchipel aus schaffte und heil zurückkehrte. Und Amundsen spurte 3.000 km von der antarktischen Küste zum Südpol und zurück: mit Hundeschlitten. Die Tiere waren Garanten seines Erfolgs und taktisches Mittel in der Nahrungskette: Sie wurden nach und nach an ihre Artgenossen verfüttert oder von den Männern der Expedition verspeist. Amundsens Bericht, wie er seinen Lieblingshusky erschießt und dann verzehrt, wirkt in seiner Nüchternheit erschütternd.

Die Jäger des hohen Nordens

Peng! Der überraschende Knall des Schusses zerreißt die Stille. Das Wasser des Eisloches mit einem halben Meter Durchmesser färbt sich rot. Der inuk greift blitzschnell zu einem Stock mit einem eisernen Haken und haut ihn ins Wasser mit den purpurfarbenen Eisstücken. Mit einem Ruck zieht er einen 1,50 m langen Seehund aufs Weiß des Schnees. Es sieht aus, als wenn der tote „seal“ geboren würde. Der Jäger zieht sein langes, scharfes Messer aus der Scheide am Gürtel. Innerhalb weniger Minuten wird aus dem kompakten Tier eine portionierte, tiefkühlbereite Ansammlung von Fleischpaketen. Es muss schnell gehen, damit der tote Körper nicht gefriert. Wir akzeptieren diese schnelle Jagd. Wie sagte Simionie? „Bei euch in Deutschland geht man auf die Felder und sammelt Kartoffeln. Wir ernten Seehunde.“

Den Inuit – Menschen, wie sie sich in völliger Ignoranz der übrigen Welt bezeichneten – war der Seehund ein und alles. Fast nur mit diesem Tier haben sie ihren Bedarf an Nahrung, Brennstoff, Kleidung und Werkzeugen gedeckt. Niemandem hat es an etwas gefehlt, solange es Robben gab: keinen Skorbut, keinen Hunger und keine Krankheiten. Der Seehund war ein Geschenk der Natur, das alle Bedürfnisse deckte. Dieser „Kultur“ ist man in Tunu näher als im restlichen Land. Die Ostgrönländer respektieren, lieben – und töten ihn! Sein Tod verheißt auch heute noch Wärme, Nahrung, Kleidung. Wen diese ehrliche Lebensweise schockt, der hat nichts in der Arktis zu suchen!

Land ist nicht mehr zu sehen. Ist es nur die Sonne, nach der er sich orientiert? Die Meinung eines Kenners klingt mir im Ohr: „Die Inuit brauchen keinen Kompass. Sie haben einen Computer.“ Er spielte auf das überragende Orientierungsvermögen der arktischen Ureinwohner an.

Reise in die Eiszeit

Festeis ist gefrorenes Salzwasser, das von Dezember bis Mai/Juni die Fjorde bedeckt. Eisberge brechen vom Rand der Gletscher des Inlandeises ab. Sie sind aus Süßwasser. Das Alter des Eises schwankt von 500 bis 100.000 Jahren am Eisrand, die untersten Schichten sind bis zu zwei Millionen Jahre alt. Schwimmende Schlösser aus Eis nannte der irische Mönch St. Brendan de Clofert im 6. Jahrhundert die geisterhaften Eisbrocken. Da liegt sie vor uns, die eingefrorene sprichwörtliche Spitze des Eisberges in riesiger Realität. Der andere Eisberg drüben hat eine sichtbare Höhe von etwa 120 Meter. Das lässt vermuten, dass seine Untergrenze etwa 600 bis 800 Meter unter der Wasseroberfläche liegt. Die weit überwiegende Zahl aller Eisberge der nördlichen Hemisphäre wird von grönländischen Gletschern produziert. Eis leuchtet in der Sonne wie gebrochenes Glas oder schimmert wie flüssiges Silber. Der Arktisforscher de Quervain schrieb: „Solch ein mit Eis verstopfter und verrammelter Fjord … ist ein Chaos, dessen Anblick so wild und abstoßend wirkt, wie ihn die Furchtbarkeit der Natur nur irgend aufweisen kann.“ Chaos ist die vollendetste Form der Unordnung – eine Urmasse. Eine grönländische Eislandschaft hat einen Hang zum Grandiosen. Die schönen kalten Monster präsentieren sich mit einer ganzen Fülle von Formen: seitwärts geneigte Blöcke, Kuppeln mit gerundeter, glatter Oberfläche, Tore, Gewölbe, aber auch spitze, dem Matterhorn ähnliche oder pyramidenförmige Gebilde: malerische Ruinen, eiskalte Märchenfiguren von atemberaubender Plastizität – formbar, wandelbar, unnahbar.

Zerkleinert machen sie selbst in Whiskeygläsern eine gute Figur. Schlägt man kleine Stücke von einem Eisberg ab und wirft diese in ein Whiskeyglas, so zerplatzen die Luftbläschen beim Schmelzen mit lautem Stakkato: die „whispering icecubes“. Sie sind begehrte Exportartikel für Leute, die sonst schon alles haben.

Schlittenhunde sind Schwerarbeiter

Die Schlitten scheinen in die Sonne hineinzugleiten. Südwärts heißt die Devise. An manchen Stellen ist das Eis schon sulzig, und Wasser schwimmt auf der Oberfläche. Es ist, als spüren die Hunde das Ende der Reise, so mächtig legen sie sich noch einmal ins Zeug. Schlittenführer Tobias schießt eine Robbe, die sich unvorsichtig bei einem Atemloch auf dem Schnee sonnt. Das Hundefutter für die nächsten Tage ist gesichert. Wir lassen uns faul von den Schlitten ziehen und bewundern die vorbeigleitende Landschaft in ihrer klaren und kalten Schönheit. Wir schauen wehmütig auf die unermüdlichen, prächtigen Schlittenhunde, die unser Gepäck während der Tour klaglos gezogen hatten. Sie geben uns aber keine Gelegenheit, ihnen näher zu kommen. Die halbwilden Huskies, das haben wir gelernt, sind keine Kuscheltiere.

Immer noch ist das Wetter schön, die Sonne hat zusehends an Kraft gewonnen. Grönlands Klima ist arktisch. Doch selbst in der Wintersaison wird man sich staunend das Thermometer ansehen, das weit unter Null gesunken ist. Und man wundert sich, dass man so wenig die Kälte fühlt. Die Luft ist sehr trocken, deswegen empfindet man die Temperaturen etwa 15 Grad Celsius wärmer, als sie tatsächlich sind. Willkommen in der warmen Arktis.

Die Natur braucht den Menschen nicht, aber der Mensch braucht die Natur

Einprägsam ist diese Tour – und bildend: Wir müssen die letzten Wildnisse dieser Erde erhalten. Der hohe Norden ist eine der wenigen noch halbwegs intakten Urlandschaften der Erde. Gefährdet genug ist dieses empfindliche Ökosystem. Denn die Kälte verlangsamt nicht nur das Wachstum, sie bremst auch den Verfall. Abfälle, die in gemäßigten Breiten von Bakterien aufgezehrt werden, sind hier noch nach Jahrzehnten konserviert.

„Wir haben kein Wort in unserer Sprache, das ‚Wildnis‘ bedeutet. Überall, wo wir hingehen ist unser Zuhause“, belehrte uns Georg Barnaby, ein Inuk. Wir erkannten, dass „Primitivität“ im High-Tech-Zeitalter Erholung bedeutet. Alles wird weit und geruhsam und friedlich.

Der Weg zum persönlichen Paradies ist offen. Es zählen nur die eigene Kraft und Fähigkeit.

© 2000, Schwarz auf Weiss


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